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Über Herbert Silberer und die kleinen (hypnagogen) Träume beim Einschlafen

Über Herbert Silberer und die kleinen (hypnagogen) Träume beim Einschlafen
#1
21.10.2023, 16:10
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Herbert Silberer, junger, früh an Suizid verstorbener Kollege von Freud. Ein Vergessener oder Verdrängter? fragt 1988 Bernd Nitzschke (1).  In die Theorie aufgenommen wurden die zunächst nur als Ergänzung zu Freuds Traumdeutung gedachten Entdeckungen und Erkenntnisse Silberers zum Ende des letzten Jahrhunderts von Rudolf Heinz, der sie zu den entscheidenden für die Traumdeutung erklärt (2). Worum geht es? Kurze Zusammenfassung von mir:

Gezündet hat es eines Nachmittags nach dem Essen auf dem Sofa. Silberer zwingt sich trotz starker Müdigkeitsgefühle eine philosophische Ableitung zwischen Kant und Schopenhauer abzuwägen. Der Faden geht verloren und verschiedene Versuche, die Gedanken wieder geordnet zurückzuholen, scheitern, als sich plötzlich eine hypnagoge Szene einstellt, die seine vergeblichen, Anstrengung fordernden Bemühungen in bildlicher Form darstellt. „Ich verlange eine Auskunft von einem mürrischen Sekretär, der, über einen Schreibtisch gebeugt, sich durch mein Drängen nicht stören läßt. Sich halb aufrichtend, blickt er mich unwillig und abweisend an.“(3)

Was hat sich hier für ein automatisches Gedankenbild eingestellt, während der Schlaf nicht mehr aufzuhalten war? Ein passendes, anschaulich geträumtes „adäquates Symbol“, das den momentanen seelischen Vorgängen nachempfunden ist: Wille/Verlangen etwas zu wissen und Unwille des Schlafwunsches sich anstrengen zu müssen. Das Abwägen der Kant und Schopenhauer Gedanken, wurde zu einem kollidierenden Abwägen zwischen wacher Denkanstrengung und dem zunehmend nötiger werdenden Schlaf, zwei gefühlswirksame miteinander verbundene Gegenpole, die sich in einer hypnagogen Halluzination nachbilden. Das Bewusstsein hat bei der Traumherstellung offenbar ein ihm naheliegendes Motiv, nämlich sich selbst, beziehungsweise sein aktuelles Geschehen, die eigenen Vorgänge in Szene zu setzen.

Silberer begibt sich auf weitere Entdeckungsreise, um solche Phänomene, die er „autosymbolische Phänomene“ nennt, zu reproduzieren. Die Phase rund ums Einschlafen hat seiner Ansicht nach den großen Vorteil die Traumbildung in nächster Nähe beobachten zu können, als die „entrückter“ liegenden Träume während des Schlaf. Es sind ihm bei seinen Experimenten drei unterschiedliche Kategorien aufgefallen, die alle die autosymbolische Qualität haben. Das heißt, sie bilden das aktuelle Bewusstseinsgeschehen ab.

1. Das materiale Phänomen. Damit werden all jene autosymbolischen Erscheinungen bezeichnet die sich auf den Inhalt eines Gedankens, einer Vorstellung oder einer Phantasie beziehen, die eine Person unmittelbar vor dem Einschlafen beschäftigt. Die geträumte Symbolik zeigt deutliche Übereinstimmung mit dem zuvor getätigten Inhalt des Gedankens.

Zwei Beispiele von Herbert Silberer:

„Ich denke daran, daß ich vor habe, in einem
Aufsatz eine holprige Stelle auszubessern.

Symbol: Ich sehe mich, ein Stück Holz glatt hobeln.“
(4)

„Ich nehme mir vor, jemandem von der Ausführung eines gefährlichen Entschlusses dringend abzuraten. Ich will zu ihm sagen: „Wenn Sie das tun, wird schweres Unglück über Sie hereinbrechen."

Symbol: Ich sehe über ein düsteres Feld unter schwerem Himmel
drei Reiter, furchtbar anzuschauen, auf schwarzen Rossen daherstürmen.“
(5)


2. Das funktionale Phänomen. Es ist das Kernstück (nach moderner Auslegung bei Heinz) der autosymbolischen Phänomene, dem auch das Entdeckungsbeispiel mit dem „mürrischen Sekretär“ relativ leicht zuzuordnen ist. Die geträumte Darstellung zeigt, auf welche Art das Bewusstsein gerade funktioniert, wie es tätig ist, oder auch in welche Richtung es sich bewegt, ob es mehr dem Wachen oder dem Schlafen zugeneigt ist, wie es in seine eigenen Übergänge verwickelt ist, und wie es um die Gefühlstimmung in dieser (nicht bewusst wahrgenommenen) Empfindung von sich in dieser Phase bestellt ist, ob es: voller Freude tätig ist, eher gestresst, sich rasch oder langsam bewegt. Mut, Ängstlichkeit, Zuversicht, Unruhe, Ruhe, Druck, Leichtigkeit, Zerstreuung, Anstrengung oder Trägheit, etc. sind Darstellungsgründe des momentanen Funktionierens. Es umfasst also nicht die Gedankeninhalte, sondern den gefühlsbetonten Zustandsverlauf des Bewusstseins. 

Hierzu ein Beispiel, das der Traumszene mit dem „mürrischen Sekretär“ von Silberer nicht unähnlich ist, von meinem Ehemann berichtet:

Zum Einschlafen gehen ihm die symbolischen Bedeutungen natürlicher Zahlen durch den Kopf, beginnend mit der 1 bis zur 5, bei der Zahl 6 fällt ihm dann nichts mehr ein, er überlegt hin und her und kann nichts finden. Es erscheint ihm ein Mann der vor einer verschlossenen Tür steht, die mit der Zahl 6 gekennzeichnet ist. Der Mann lässt ihn nicht rein. Diese Traumhalluzination widerholt sich, als er nach einer kurzen Weckphase wieder einzuschlafen versucht.

Auch hier zeigen die hypnagogen Bilder, dass die gewünschte Erkenntnis, der sie verlangenden Person nicht vergönnt ist, sie erscheint dem eigenen Bewusstsein, das sich als Doppelgänger personifiziert und mit seinem Verhalten ein ausdrückliches „Nein, das Ding ist nicht zu haben“ darstellt, als verschlossene Tür. Die Stärke des Wunsches, eine Antwort zu finden, drückt sich nochmal durch die exakte Wiederholung der Szene aus. 

Das Initialbeispiel mit dem Sekretär enthält die vergebliche Mühe, das Wachbewusstsein, das im Konflikt mit der Schläfrigkeit steht, zu halten, und den verlorenen Faden wieder aufzunehmen. Das nur „halb Aufgerichtete“ des Sekretärs zeigt zugleich, dass auch der Schlaf noch nicht gewonnen hat, dazu die Befindlichkeit während dieses Vorganges, Anstrengung, Müdigkeit, Abwehr der Aktivität, aber ebenso Abwehr der passiven Seite. Anderes kann sich daruntermischen, allgemeinere Grundbefindlichkeiten, Störungen, Tagesreste, die auch Gedankeninhalte enthalten können. Die beiden anderen Kategorien werden hier zugearbeitet haben, diese Selbstdarstellung weiter zu verfeinern. Bei dem Beispiel von meinem Mann mit der Zahl 6, hat sich der Inhalt mit zur Gefühlslage eingemischt, insofern sich die Zahl 6 auf der Tür gezeigt hat.   

3. Das somatische Phänomen. Als somatisches Phänomen werden alle äußeren und inneren Empfindungen bezeichnet, sie betreffen sinnlich wahrnehmbare Weckreizsignale aus der Außenwelt, oder auch die körperlichen Empfindungen, die Nervenreize aus der Innenwelt, Schmerzempfindungen, allgemein Störempfindungen, die dem Schlaf entgegentreten und die in Träumen aufgefangen werden. 

Normaler Weise braucht es keine extra Experimente, wie die eigene Denkanstrengung versus empfundener Müdigkeit gegeneinander auszuspielen, um solche kleinen Traumszenen zu erhaschen. Die Experimente von Silberer hatten den Sinn, möglichst genaue Differenzierungen durch aufmerksame Beobachtung zu erhalten. Gerade aber die somatischen Phänomene entstehen ohne jede Anstrengung und sind außerdem nicht so schwer zu deuten. Licht, Geräusche, die berühmte Mücke, die stört, ein körperlicher Schmerz, ein Druckgefühl, eine schlechte Lage im Bett. Hier ein Beispiel von Silberer:

„Ich schöpfe tief Atem, meine Brust hebt
sich hoch.

Symbol: Ich hebe mit jemandem zusammen einen Tisch in die
Höhe.“
(6)

Die somatischen Phänomene sind auch aus Träumen gut bekannt. Eine Übertragung auf die Traumdeutung bietet sich schon ihretwegen an. Hier ein einfaches Beispiel aus meinem Fundus. 

Träumer erlebt sich unter den Zuschauern beim Formel 1 Rennen auf dem Nürburgring, das Rennen ist in vollem Gange, er sieht die Autos an sich vorbeifahren. Als er wach wird, merkt er, wie der Nachbar mit dem lärmenden Rasenmäher in der Nähe seines Fensters vorbeifährt.

Auch das funktionale Phänomen ist als Darstellung besonders des Übergangs vom Wachen in den Schlaf (oder umgekehrt, morgens früh vom Schlafen ins Wachen, den hypnopompen Traumausklängen), ebenfalls ohne Experimentieranstrengung gut zu beobachten. Silberer spricht in diesem Fall noch einmal spezieller von „Schwellensymbolik“ (7). Typische Beispiele, die auf Bewusstseinsveränderungen hindeuten, wie Einschlafen oder Erwachen, und darum eine Schwellensymbolik produzieren, sind das Begrüßen oder Verabschieden einer Person, allgemein Szenen, die Verbinden oder Trennen ausdrücken, das Besteigen einer Brücke, das Überqueren eines Baches, ein Floß, das einen „hinüberbringen“ soll, steht bereit, der Sprung in einen See, das Steigen ins Wasser, Leiter oder Treppen hinauf oder hinunter Gehen, untertauchen, das nach Hause zurück kehren. Der Tod bezeugt, dass etwas zu Ende geht, dass der Traum sich neigt, ist Ausdruck einer Trennung von der gegebenen Situation, kündigt einen Neuanfang an.

Alle drei Phänomene sind nicht klar zu scheiden, betont auch Silberer. Sie sind vielmehr nur Momente eines Vorganges autosymbolischer Darstellung. 

Der vollständige Text Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinations-Erscheinungen hervorzurufen und zu beobachten von Herbert Silberer ist hier nachzulesen.


(1)Vgl. Bernd Nitzschke (Hg.) Zu Fuß durch den Kopf - Wanderungen im Gedankengebirge. Ausgewählte Schriften Herbert Silberers – Miszellen zu seinem Leben und Werk. Tübingen (edition diskord) 1988. S.10
(2)Rudolf Heinz z.B. Traum – Traum 1999 Zum Zentenarium der Traumdeutung Freuds. Wien 1999
(3)Herbert Silberer in Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinations-Erscheinungen hervorzurufen und zu beobachten. Jahrbuch für Psychoanalytische und Psychopathologische Forschungen. I. Band, II. Hälfte, Leipzig und Wien 1909. S. 514
(4) Ebd. S. 519
(5)Ebd. S. 520
(6)Ebd. S. 523
(7)Symbolik des Erwachens und Schwellensymbolik überhaupt. Jahrbuch für psychoanalytische und psychologische Forschungen. III. Band Leipzig und Wien.1912 2.Hälfte.
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RE: Über Herbert Silberer und die kleinen (hypnagogen) Träume beim Einschlafen
#2
24.10.2023, 00:33
[+] 1 User sagt Danke! Laura für diesen Beitrag
Interessante Basisbetrachtung, danke für den Bericht.
Klarträumer sind Stehaufmännchen
Wahrer Reichtum liegt in der lebendigen Praxis der Anerkennung des freien Willens
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