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Körperwahn und Selbstvermessung» Gedanken zum Dilemma einer paradoxen Gesellschaft

Körperwahn und Selbstvermessung
#1
19.12.2016, 15:09 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 19.12.2016, 15:14 von Bultungin.)
Körperwahn und Selbstvermessung
Gedanken zum Dilemma einer paradoxen Gesellschaft

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Zweifelhafte Schönheitsideale einer Gesellschaft im Zeitalter des enormen Überflusses erzeugen Druck, Verunsicherung und Angst – die Models werden immer magerer, der Körper immer mehr zum Gegenstand der digitalen Vermessung durch Zahlen. Schwache Versuche entgegenzusteuern – beispielsweise durch den wachsenden „Markt“ der „Curvy Models“ – sind nur scheinhaft eine Besserung der Umstände, geht es doch letztendlich immer um das Gleiche: Den perfekten Körper.

Der Körperwahn greift um sich: Bin ich zu dick, zu dünn, zu breit, zu schmal, zu muskulös, zu unförmig oder gerade richtig? Zahlreiche Formeln, Apps, Programme, Fitness-Pläne, Diäten und Co. versprechen die Erfüllung des künstlich erzeugten Bedürfnisses. Konsequenzen und gleichermaßen Vorraussetzungen der Selbstvermessung und Selbstkontrolle sind dabei keine Ausnahmen: Die verzerrte Wirklichkeit erzeugt Glaubenssätze und Annahmen über sich selbst, andere und die Welt, die in die Verzweiflung – und echte Krankheit – treiben können.

Die Zahl der Essgestörten steigt – fast jeder Mensch scheint in irgendeiner Form ein Problem mit dem Essen oder Nicht-Essen zu haben – und der Gesundheits- und Fitnesswahn tritt unter Deckmantel des Rationalen und „Guten“ an die Oberfläche eines Problems, das weiter und vor allem tiefer greift als es die „Sache“ selbst erahnen lässt.

Wir leben in einer Welt der Massenmedien, des Konsums und der „tausend Möglichkeiten“. Der Einzelne gerät zwischen die Mühlsteine der (Selbst-)Täuschung, stets bestrebt unter Einhaltung der „Regeln“ das Richtige zu tun – sein Ziel: Anerkennung und „dazu gehören“ – „Das macht man halt so.“, „Das ist halt so heutzutage.“ Die Konformität führt nur weiter in die Irre, der Konsum sinnloser Produkte nur weiter in die Verzweiflung „noch nicht gut genug“ zu sein.

Der Körper als Fehler: Er ist zu verbessern, an jeder erdenklichen Stelle. Der Mensch macht sich selbst zu einem Produkt, das korrigiert und optimiert werden muss, um „verwertbar“ und „wertvoll“ zu sein – der Mensch als Kapital? Die Selbstvermessung wird belohnt durch gesenkte Kosten und personalisierte Angebote der Krankenkassen und Co. – neue Regelungen, die Vorteile für den Verbraucher versprechen, oder eher Ver-regelungen? Die unsichtbare Fußfessel wird schwerer, die Kette wird kürzer.

Die Masse, die an sich selbst krankt – erzeugt sie den vermeintlich Kranken, der sich brav dafür einsetzt, einen „gesunden“ Lebensstil zu führen? Die Frage nach der eigenen Passung, der Passung in das „Schema“, enttarnt sich als ein Fass ohne Boden: Alles richtig machen und doch falsch? Der Selbstvermesser und Gesundheitswahnsinnige sieht sich selbst als den Gesunden, doch täuscht der Schein, nimmt sich der Kranke unter den Kranken als den Gesunden wahr?

Körperwahn und Selbstvermessung – praktische Alltagshilfe für die Einen, ewige Odyssee und Höllenfahrt für die Anderen. Übertriebene Gesundheitsmaßnahmen, Selbstkontrolle und Selbstkasteiung bei Regelunkonformität – Vorbild oder Wahn, vielleicht auch beides?

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Ich plädiere für mehr Klarheit im Medienalltag. thumbsu
Was meint ihr dazu?
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RE: Körperwahn und Selbstvermessung
#2
19.12.2016, 16:47
Zitat:Schwache Versuche entgegenzusteuern – beispielsweise durch den wachsenden „Markt“ der „Curvy Models“ – sind nur scheinhaft eine Besserung der Umstände, geht es doch letztendlich immer um das Gleiche: Den perfekten Körper.
Warum nur scheinbar? Allein das Vorhandensein von mehreren, einander widersprechenden Idealen löst ja bereits etwas von der Idee, man müsse sich auf genau eine bestimmte Weise ausrichten.

Dass dieser Prozess enorm zäh ist und daher sich zuwenig ändert, klar.

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Selber hab ich derzeit eine merkwürdige Position erreicht, mit der ich zwar mit meinem Körper nicht völlig glücklich bin, mir aber gleichzeitig nicht so recht vorstellen kann, was anders sein sollte. Mir erscheint es so, dass übergewichtig zu sein in gewissem Sinne zu mir passt, es passt also zu irgendeinem Selbstbild; wie sich dieses konstituiert, ist mir nicht so ganz klar. Vielleicht fühle ich mich wohler, weil jemand, der mich ansieht, nicht so leicht auf die Idee kommen kann, ich könnte sportlich sein - dass man mir also die Unsportlichkeit ansieht, und mir daher die Last genommen ist, diese irgendwie anders mitzuteilen.

In den Jahren, in denen ich nen Vollbart trug (so 2008 bis 2011 oder so) hab ich mir immer eingeredet, ich würde mich dadurch automatisch abgrenzen, und verhindern, von irgendjemand Fremden als "gewöhnlich" angesehen zu werden; und dies wäre mir unangenehm gewesen. Oder vielleicht ist es richtiger zu sagen, um der Schubladisierung zu entkommen, habe ich versucht, eine neue Schublade aufzumachen, sodass die Einordnung durch andere gestört würde... zumindest fand ichs lustig, wenn mich Leute um zehn Jahre zu alt eingeschätzt haben.wink1

Zitat:Der Körper als Fehler: Er ist zu verbessern, an jeder erdenklichen Stelle. Der Mensch macht sich selbst zu einem Produkt, das korrigiert und optimiert werden muss, um „verwertbar“ und „wertvoll“ zu sein – der Mensch als Kapital?
Was ist aber die Lösung? Der Körper ist ja veränderlich und wir haben die Möglichkeit, darauf einzuwirken. Also müssen wir irgendeine Entscheidung treffen, wie wir das machen.

Es ist imho schon ein großer Schritt vorwärts, zu hinterfragen, für wen man den Körper gestaltet, und da weg von "für die anderen" oder "für die Gesellschaft" zu kommen. Aber irgendein Ideal hat man ja wohl auch selbst... sich selbst gefallen wollen ist für mich grad noch so die beste Lösung.
...in einer anderen Herde. pink
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RE: Körperwahn und Selbstvermessung
#3
23.12.2016, 22:46
(19.12.2016, 15:09)Mrs. Mortisaga schrieb: Körperwahn und Selbstvermessung
Gedanken zum Dilemma einer paradoxen Gesellschaft
danke


Zitat:Der Körper als Fehler: Er ist zu verbessern, an jeder erdenklichen Stelle. Der Mensch macht sich selbst zu einem Produkt, das korrigiert und optimiert werden muss, um „verwertbar“ und „wertvoll“ zu sein – der Mensch als Kapital? Die Selbstvermessung wird belohnt durch gesenkte Kosten und personalisierte Angebote der Krankenkassen und Co. – neue Regelungen, die Vorteile für den Verbraucher versprechen, oder eher Ver-regelungen? Die unsichtbare Fußfessel wird schwerer, die Kette wird kürzer.
die scheinbare belohnung hast du gut dargestellt, aber ich finde es gibt noch mehr. die akzeptanz in der masse hast du schon erwähnt, doch es zählt noch spezieller die akzeptanz im freundes- und bekanntenkreis und die aussicht, einen ausgezeichneten partner zu bekommen, oder ihn zu behalten.


Zitat:Was meint ihr dazu?
cooler text. hast du noch speziellere fragen, auf die man besser antworten könnte?


(19.12.2016, 16:47)gnutl schrieb: Vielleicht fühle ich mich wohler, weil jemand, der mich ansieht, nicht so leicht auf die Idee kommen kann, ich könnte sportlich sein - dass man mir also die Unsportlichkeit ansieht, und mir daher die Last genommen ist, diese irgendwie anders mitzuteilen.
wem soll man die denn mitteilen? für mich ist sportlichkeit eher fit sein, damit ich nicht schon wieder rückenschmerzen kriege. also nur ein wert für mich selbst. und spaß, wenns um skati fahren geht. für viele ist es aber rumgepose und soziales aussortieren, das ist ätzend.

Zitat:In den Jahren, in denen ich nen Vollbart trug (so 2008 bis 2011 oder so) hab ich mir immer eingeredet, ich würde mich dadurch automatisch abgrenzen, und verhindern, von irgendjemand Fremden als "gewöhnlich" angesehen zu werden; und dies wäre mir unangenehm gewesen.
ja, nun wo es "hipster" gibt, ist das schwieriger ^^


Zitat:Es ist imho schon ein großer Schritt vorwärts, zu hinterfragen, für wen man den Körper gestaltet, und da weg von "für die anderen" oder "für die Gesellschaft" zu kommen. Aber irgendein Ideal hat man ja wohl auch selbst... sich selbst gefallen wollen ist für mich grad noch so die beste Lösung.
die größere schwierigkeit beginnt da, wo die ideale der gesellschaft inkorporiert wurden und man das gar nicht mehr merkt. man denkt dann, es ginge nur darum, sich selbst wohl zu fühlen. auf oberflächlicher ebene stimmt das auch. aber warum man sich unwohl fühlt, wenn man keine aufgespritzten lippen oder stählerne muskeln hat, hat doch wieder seine gründe in den reaktionen anderer, die man einmal erlebte, und die man sich selbst gegenüber nun nachspielt. also ich find deinen ansatz richtig, aber doch gehört dazu noch die hinterfragung, warum man sich mit etwas wohl fühlt oder nicht. die idee, man wäre selbstbestimmt und lebe seine eigenen vorstellungen vom leben, hat ja fast jeder. je überzeugter die leute davon sind, umso unwahrscheinlicher, dass es stimmt.
Bin nicht mehr hier, aber noch erreichbar.
Bitte keine coronaleugner
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