RE: die reise
16.12.2012, 21:02
12. Der Baum
Der Mann blickt auf das Bett, wo sich noch der „Behälter“ befindet. Dieser sieht jetzt aus wie ein Krater, ein kleiner Vulkan aus Fleisch und Blut, in dessen Mitte als Krater ein schwarzes Loch im Bett ist. Er geht hin und blickt in dieses schwarze Loch, schließlich taucht er ein und befindet sich in einem leeren Raum. Eigentlich handelt es sich nicht einmal um einen leeren Raum. Es gibt außer der Wahrnehmung des eigenen Körpers rund um diesen gar keine Wahrnehmung, weder Licht noch Dunkelheit – oder doch: eine Art bräunliches Nichts. Der Mann schwebt darin und empfindet außer den Körpersensationen nichts.
Schließlich wird er einer riesenhaften Frauengestalt gewahr. Sie trägt einen knielangen Rock – das ist das einzige, was er erkennen kann, denn die Frauengestalt ist dermaßen riesig, dass sich nach oben sowie nach unten hin der Körper jenseits des Blickhorizontes verliert. Der Mann befindet sich immer weiter unten und er bemerkt, dass sich plötzlich um die Frau ein weitläufiger Wald aus dunklen Nadelbäumen, wahrscheinlich Fichten, gebildet hat. Die Frau selbst hat sich in einen riesengroßen Baum verwandelt, der so groß ist, dass nur der unterste Teil seines Stammes sichtbar ist, der aus dem Wald ragt. Die Waldbäume bewachsen die aus dem Boden ragenden Wurzelstränge des großen Baumes wie die Flanken eines Berges.
Der Mann befindet sich nun am Fuße dieses "Bergbaums", als vom Wald her ein kleines Männchen, offenbar ein Zwerg, näherkommt. Das Männchen wirkt freundlich. Als der Mann signalisiert, gerne in die umliegenden Wälder zu gehen auf der Suche nach neuen Abenteuern, entgegnet ihm der Zwerg mit einem Kopfschütteln, wobei er verschmitzt lächelt, dass das der falsche Weg sei und er stattdessen den riesigen Baum erklettern solle. Er hat auch Kletterausrüstung dabei, wenigstens je ein kleines Beil für sie beide – der Zwerg möchte den Mann offenbar begleiten. Der Mann, im Gefühl, dass der Zwerg recht hat, willigt ein und sie machen sich daran, den Baum zu erklettern, welcher allerdings dermaßen groß ist, dass es vollkommen aussichtslos erscheint, jemals in seine Krone gelangen zu können. Am Anfang geht es ganz gut voran, da die Baumrinde unten sehr rissig ist, was viele Anhaltspunkte liefert. Sie müssen eigentlich gar nicht klettern, da die Borken große Vorsprünge und geschützte Schachte bieten. Bald jedoch kommen sie an einen Bereich, wo die Rinde äußerst glatt ist. Ein Vogel, von der Art her ein kleiner Singvogel, aber, entsprechend den riesigen Ausmaßen des Baums ebenfalls riesenhaft vergrößert, greift nun die beiden an. Offenbar will er sie wie Insekten aus der Baumrinde herauspicken. Die beiden versuchen, sich hinter der letzten Borke vor dem glatten Bereich zu verbergen und zu schützen, aber der Vogel ergreift schließlich den Zwerg mit seinem Schnabel und frisst ihn noch in der Luft. Der Mann, nun allein, versucht den Weg fortzusetzen, sieht aber keine Möglichkeit, weiter hinauf zu gelangen. Schließlich entdeckt er am Ende der letzten Borke eine runde, hölzerne Tür im Baum. Er klopft an und heraus kommt ein riesiger, schwarzer, äußerst bedrohlicher Käfer. Er versucht ihn anzusprechen, der Käfer signalisiert aber einfach nur, dass er den Mann fressen wolle.
Der Mann, der hier keine konstruktive Fortsetzung mehr für möglich hält, beschließt, die Zeit etwas zurückzudrehen: der Zwerg ist wieder da und sie gelangen wieder zu der hölzernen Tür. Wieder kommt ein schwarzer Käfer heraus, diesmal ist er aber freundlich und geleitet sie ins Innere seiner Wohnung. Diese besteht aus einem Raum, in dem zwei kleine Bettchen stehen. Er lädt sie ein, etwas hierzubleiben und sich auszurasten. Der Mann blickt sich um und bemerkt zunächst, dass der Raum keine Öffnungen oder Fenster aufweist. Schließlich erblickt er aber doch, auf der der Tür gegenüberliegenden Seite, eine runde Öffnung, durch die das helle Tageslicht von draußen zu sehen ist. Rechts neben dieser Öffnung windet sich eine Treppe weiter hinauf. Der Mann und der Zwerg gehen nach einem kurzen Aufenthalt in der Käferwohnung diese Treppe weiter hinan, die bald nach draußen führt. Hier, auf der gegenüberliegenden Seite des Baumes, ist die Rinde weiterhin borkig, und die Treppe windet sich durch die von den Borken gebildeten Vorsprünge weiter nach oben, bis sie wieder zu einer runden, hölzernen Tür gelangen, in der abermals ein schwarzer, freundlicher Käfer wohnt, der sie hereinbittet. Es spielt sich so ziemlich dasselbe ab wie beim ersten Mal.
Als sie wieder über eine Treppe hinaus ins Äußere des Baumes gelangen, bemerkt der Mann, dass sie sich schon sehr weit oben befinden: der den Riesenbaum umgebende Wald ist nur noch als eine schwärzliche Fläche sichtbar, die sehr, sehr weit unten ist. Dennoch haben sie noch nicht einmal die untersten Äste des Riesenbaumes erreicht. Über ihnen ragt allerdings ein kleines, abgebrochenes Stückchen eines Ästchens aus dem Baum. Sie erreichen also langsam den Bereich der Äste. Der Zwerg hat auch ein Seil dabei, wie sich jetzt herausstellt, und klettert, dieses um den Leib gebunden, behänd voraus, bis er auf dem abgebrochenen Ästchen zu sitzen kommt, wo er das Seil befestigt, mit dessen Hilfe nun auch der Mann nachkommen kann. Von hier an zeigen sich, in immer kürzeren Abständen, weitere Äste, immer kräftigere, längere und von grünen Nadeln – der Riesenbaum ist also ein Nadelbaum – bewachsene Äste. Das Fortkommen wird immer leichter, das Seil brauchen sie bald nicht mehr. Auf einem der Äste übernachten sie, gebettet von den grünen, noch frühlingsweichen Nadeln am äußeren Ende des Astes.
Am nächsten Tag gewahrt der Mann etwas weiter oben ein in die Äste gebautes Vogelnest, wie der Vogel vorher entsprechend der Baumgröße proportioniert. Er denkt, dass dieses Nest möglicherweise dem bedrohlichen Vogel gehören könnte und nimmt sich vor, besonders vorsichtig an dem Nest vorbeizuklettern. Als sie daran vorbei sind und er auf es hinunterblicken kann, sieht er, dass es offenbar ein verlassenes Nest ist, denn es ist leer. Die Äste werden nun immer dichter, man hat bereits den Kronenbereich des Baums erreicht. Der Stamm ist nun sehr dünn geworden, doch plötzlich bricht er ab: die Spitze des Baums muss irgendwann einmal abgebrochen sein, vielleicht durch einen Blitzschlag. Der Zwerg klettert weiter, um ganz auf diese abgebrochene Spitze zu gelangen, der Mann folgt ihm. Oben angelangt, erinnert die Spitze an ein zackiges Gebirge, die Holzfasern ragen jäh in die Luft wie ein Schrofengebirge.
Der Mann fragt den Zwerg, was sie nun hier sollen, es wirkt nicht so, als wäre hier etwas Besonderes, das den langen Aufstieg rechtfertigen würde. Der Zwerg antwortet nicht, sondern lächelt nur verschmitzt. Dadurch, dass die Spitze abgebrochen ist, gibt es keine freie Sicht auf das Umland, da manche Äste gleich hoch oder sogar noch höher als diese „Spitze“ liegen, dennoch geben sie immer wieder in den Bewegungen, die sie im leichten Wind machen, den Blick frei. Dieser Blick ist überwältigend. Man sieht weit ins Umland und ist unglaublich hoch über der Landschaft. Die Empfindung dieser Höhe und dieses – wenn auch immer wieder durch die Äste verdeckten – Ausblicks erzeugt ein euphorisches Gefühl im Mann. Die beiden sitzen nun auf dieser Spitze und genießen einfach diese Höhe und diesen Ausblick.
Währenddessen wird es Abend, die Sonne versinkt rot im Horizont, was wieder eine ganz eigene Schönheit offenbart. Schließlich ist es Nacht und die Sterne leuchten am Himmel, was hier auf dieser Höhe abermals ein ganz besonderes Erlebnis ist. In dieser Nacht nun entdeckt der Mann ganz entfernt am Horizont Lichter, die auf menschliche Behausungen hindeuten. In ihm erwacht eine Sehnsucht, dorthin zu gelangen, aber er scheut den langen und gefährlichen Abstieg vom Baum. Der Zwerg aber schafft wieder Abhilfe: Es zeigt sich, dass er nicht nur Beile und ein Seil, sondern auch zwei Bündel mitgenommen hat, in denen sich Drachenflieger befinden. Er baut sie zusammen, und als es Morgen ist, hat er sie am äußersten Ende eines der obersten Äste, im weichen Grün der noch frischen Nadeln aufgestellt und mit Seilen festgemacht. Die von leichtem Wind bewegte Morgenluft fühlt sich sehr gut und belebend an, der Mann und der Zwerg halten sich am Gestänge der Drachenflieger fest, während die Äste, auf denen sie befestigt sind, im Wind auf und ab wogen, die beiden wogen mit, was ein sehr angenehmes Gefühl ist. Schließlich durchtrennt der Zwerg mit einem Messer die Seile, und mit dem nächsten Aufwogen der Äste heben die beiden in die Lüfte ab und fliegen davon.
Das Ziel ist die menschliche Behausung am Horizont, aber der Mann ist so überwältigt von dem schönen Fluggefühl, dass er dieses Ziel fast vergisst und lieber einige Runden in der Luft dreht. Der Zwerg scheint nichts dagegen zu haben, er lächelt und scheint sich mit dem Mann, für den dieses Flugerlebnis etwas ganz Neues ist, zu freuen. Die Gegend besteht aus einem bis in alle Horizonte reichenden Wald, der sich auf hügeligem Gelände dahinstreckt. Schließlich erinnert sich der Mann doch an sein ursprüngliches Ziel und beginnt, in Richtung der menschlichen Behausungen zu fliegen. Als sie in deren Nähe kommen, dreht der Zwerg lächelnd ab und fliegt nach rechts in eine andere Richtung davon. Es scheint, als habe er seine Mission nun erfüllt und als müsse der Mann nun aus eigener Kraft weitermachen.
Der Mann betrachtet die Häuser, sie wirken sehr einfach, etwas orientalisch, aus weichem Gestein mit runden, glaslosen Fensteröffnungen, eng hineingebaut in das Gelände eines Hügelhangs. Er sucht nach einem geeigneten Ort zur Landung und entdeckt schließlich eine größere Wiese unterhalb des Dorfes. Sein Nahen hat offenbar die Aufmerksamkeit der dort lebenden Menschen erregt, denn auf der Wiese hat sich schon ein kleiner Auflauf gebildet. Der Mann landet und fühlt sich der Situation ausgeliefert – er weiß ja nun nicht, ob diese Menschen freundlich gesinnt sind oder nicht. Sie scheinen es aber zu sein, denn als er gelandet ist, kommt der Bürgermeister dieses Dorfes an ihn heran und begrüßt ihn mit einem Handschlag. Dann gehen alle – der Mann in ihrer Mitte – hinauf zum Dorf, wo man ihm sogleich eines der Häuser zum Wohnen anbietet. Der Bürgermeister weist auf die Schwelle und der Mann tritt ein. Das Innere des Hauses ist nicht sonderlich einladend: der Boden besteht einfach aus dem Hang des Hügels, es ist die natürliche Erde. Es gibt keine ebene, glatte Fläche als „Boden“. Auch verfügt der Raum kaum über eine Einrichtung.
Während sich der Mann so umsieht, erinnert er sich plötzlich an Amina und eine fast unerträglich starke Sehnsucht nach ihr erfasst ihn. Er tritt aus dem Haus, vor dem immer noch der Bürgermeister mit ein paar anderen wichtigen Leuten aus dem Dorf steht, und obwohl gerade ein Fest zu seinen Ehren vorbereitet wird, teilt er dem Bürgermeister mit, dass er den Ort sogleich wieder verlassen müsse, da er sich nach Amina sehne. Ob sie wüssten, wer sie sei, fragt er die Leute. Diese teilen ihm mit, dass sie das allerdings wüssten. Amina sei die Königin des Reiches, in dessen Grenzgebiet sich dieser Ort befinde. Es sei ein großes Reich, das Amina gemeinsam mit dem Sonnenkönig regiere. Der Mann vermutet, dass der Sonnenkönig jene göttliche Lichtgestalt ist, in die sich die Hornissenkönigin verwandelt hatte. Diese Lichtgestalt hatte ja auf der Insel mit Amina die Hochzeit vollzogen, und jetzt haben sie offenbar gemeinsam dieses riesige Reich gegründet.
Obwohl Amina dadurch in unerreichbare Höhen entrückt erscheint, macht sich der Mann dennoch auf den Weg zu ihr. Man weist ihm den Weg auf einer Mauer von der Art der chinesischen Mauer, auf der sich eine breite, mit großen Steinen gepflasterte Straße befindet. Der Mann geht, in der Hoffnung, irgendwann die Hauptstadt des Reiches zu erreichen, wo er Amina und den Sonnenkönig vermutet. Der Weg erweist sich allerdings als sehr lang. Die Mauer und die Steine wirken sehr alt, antik, was eine schöne Atmosphäre verbreitet, so als würde man sich zwischen alten römischen Ruinen bewegen, wie auf dem Forum Romanum in Rom. Plötzlich merkt der Mann, dass sich die Landschaft verändert hat: zur Rechten der Mauer ist alles gleich geblieben – ausgedehntes, grünes, freundliches, hügeliges Land –, während zur Linken gar keine Landschaft mehr sichtbar ist, nur ein Meer aus gleißendem Licht. Die Mauer ist also offenbar eine Grenzmauer, die das Land von diesem formlosen Licht trennt. Wie er weitergeht, bemerkt er, dass diese Grenze nun in ihm selbst verläuft: seine linke Körperhälfte besteht aus diesem Licht, während die rechte noch menschlich gestaltet ist. Der Mann springt von der Mauer nach rechts in das Land, dennoch bleibt diese Grenze, die durch seinen Körper verläuft. Er springt wieder auf die Mauer und weiß nun nicht so recht, was er tun soll. Dass er die Hauptstadt erreichen könnte, daran glaubt er nicht mehr, es scheint, als würde er immer auf dieser Grenze bleiben müssen.
Doch dann erkennt er, dass er Amina und den Sonnenkönig schon längst erreicht hat. Sie haben nicht mehr menschliche Gestalt, sondern der Sonnenkönig ist das gleißende Licht, während Amina die dunkle Erde ist. Er betrachtet die Landschaft innerhalb der Grenzmauern, ihre heilige, ruhige Stimmung. Er sieht die vielen feinen farblichen Abstufungen in ihr und ihm wird klar: diese ganze Vielfalt der Farben ist nur möglich, weil sich Licht und Erde vereinigen. Je nach dem Anteil Aminas und des Sonnenkönigs erscheinen verschieden helle Farben. Das große Reich, das Amina und der Sonnenkönig gegründet haben, ist nichts anderes als ihre beständige Hochzeit. Diese Erkenntnis lässt seine Sehnsucht nach Amina und auch seine Resignation angesichts deren Verbindung mit dem Sonnenkönig, die ein Zusammenkommen mit ihr unmöglich zu machen scheint, verschwinden, und es bleibt nichts als eine religiöse Ehrfurcht vor dem, was er hier erkannt hat. Er setzt sich in den Boden auf der diesseitigen Seite der Mauer, mit dem Rücken an diese gelehnt, und betrachtet seine Umgebung. Er nimmt jedes Detail wahr, etwa die verschiedenen Blättchen der kleinen, grünen Pflanzen und Gräser um ihn herum, die vielen Schattierungen des Grüns, und ein großes, ruhiges Glücksgefühl breitet sich in ihm aus. Er lässt es eine Weile zu, dass nichts geschieht. Dann fällt ihm ein, dass er kurz daran gedacht hat, zu Amina zu beten, um sie dadurch dazu zu bewegen, ihm in menschlicher Gestalt entgegenzutreten, aber er verwirft diesen Gedanken wieder. Er denkt zurück an die jüngsten Ereignisse und merkt zu seinem Unbehagen, dass er die auf dem Weg liegenden Probleme – der abgebrochene Riesenbaum, das Haus ohne Boden – mehr oder weniger ignoriert hat, und es entsteht in ihm das Bedürfnis, den Weg wieder zurückzugehen, um diese Probleme, wenn irgend möglich, zu lösen.
Er springt also wieder auf die Mauer, um den Weg zurück zu gehen. Dadurch, dass er sich jetzt in der entgegengesetzten Richtung bewegt, ist nun die andere, die rechte Körperhälfte dem Licht zugewandt, wodurch sich nun auch diese in Licht verwandelt, sodass er bald ein körperloses Lichtwesen ist – was sich sehr angenehm anfühlt. Er kommt bald wieder an den Grenzort, wo sich die Menschen, an denen er vorbeikommt, sofort, wenn sie seiner ansichtig werden, vor ihm auf den Boden werfen. Sie halten ihn für den Sonnenkönig. Er ignoriert die Menschen und bewegt sich auf das Haus zu, in welchem man ihn einquartieren wollte, und in es hinein. Drinnen erfüllt sich der Raum mit seinem Licht und die Wände erstrahlen hell und offenbaren eine kathedralenhafte Schönheit. Der Mann überlegt, was er bezüglich des „Bodenproblems“ machen könnte, aber da er keinen Körper hat, kann er nichts anderes tun als nur zu strahlen. Durch die Strahlen seines Lichts wachsen auf dem kahlen Boden schnell etwa 15 Zentimeter hohe Blümchen mit weißen, kleinen Blüten in der Form von Vergissmeinnicht. Der Mann hat das Gefühl, hier nicht mehr tun zu können, und obwohl die Blumen sehr schön sind und der Boden dadurch weich und einladend geworden ist, hat er das Gefühl, der Sache nicht wirklich auf den Grund gekommen zu sein. Er bewegt sich wieder hinaus und fliegt auf den Riesenbaum zu in der Hoffnung, dort mehr ausrichten zu können. Er hofft auf die Möglichkeit, dass, wenn das Problem mit dem Riesenbaum erst gelöst sein würde, das vielleicht das eigentlich zugrundeliegende Problem ist, sich dann automatisch auch das „Hausproblem“ mitlösen könnte. Aber auch beim Baum ist seine Körperlosigkeit ein Hindernis. Er kann nichts anderes tun als den Baum zu umfliegen und von allen Seiten zu betrachten, um vielleicht eine Erklärung für die abgebrochene Spitze zu finden. Irgendwo müsste ja der abgebrochene Teil zu finden sein, wenn ihn nicht jemand oder etwas forttransportiert hat. Er bemerkt schließlich, dass der abgebrochene Teil auf dem Boden liegt, ganz vermoost und überwachsen ist – und dass der Riesenbaum genau darin seine Wurzeln geschlagen hat. Der Baum wächst also aus seiner eigenen Spitze, ist in seiner eigenen Spitze verwurzelt. So etwas kann eigentlich nicht möglich sein. Aber es ist so. Da der Baum in seiner eigenen abgebrochenen und im Boden vermodernden Spitze wurzelt, ist es ihm möglich, aus dieser Spitze genau jene Nährstoffe und Substanzen zu ziehen, die es ihm ermöglichen, die abgebrochene Spitze oben wieder nachwachsen zu lassen. Der Mann bemerkt, dass die Zacken der Bruchstelle schon gerundet sind und nicht mehr so scharf, wie sie es bei seinem ersten Besuch mit dem Zwerg waren, und dann geht es sehr schnell: ziemlich plötzlich steht der ganze Baum da. Er ist nun doppelt so hoch – höher als der Mann erwartet hat – und ragt weit in den Himmel, bis in die Wolkendecke hinein und wohl darüber hinaus.
Der Mann sieht nun eine Gestalt, die an „Gollum“ aus „Herr der Ringe“ erinnert, an diesem Stamm hochklettern, hält diese Figur aber für einen bloßen Ersatz dafür, dass er selbst aufgrund seiner Körperlosigkeit nicht hinaufklettern kann. Ein bloßes Hochfliegen an die Spitze erscheint ihm zu einfach, er hat das Gefühl, sich diesen Aufstieg wie beim ersten Mal durch eigenes Klettern, Bestehen von Gefahren und Aushalten von Anstrengungen verdienen zu müssen, weshalb er selbst versucht, eine festere Gestalt anzunehmen. Es gelingt ihm auch, vier Glieder zu entwickeln, mit denen er – er sieht jetzt aus wie ein Insekt oder ein kleines Reptil – hochkrabbeln kann, während sein „Körper“ allerdings immer noch lichthaft ist. Er gelangt in den Bereich der Wolken und schließlich erreicht er die Spitze, die mitten in eine Wolkendecke hineinragt, ohne diese zu überragen. Der Mann setzt sich der Spitze auf, als wäre er ein Weihnachtsstern und der Baum ein Weihnachtsbaum.
Wie er da so sitzt und sich etwas albern dabei vorkommt, erreicht nun auch jene gollumartige Gestalt die Baumspitze. Aus der Nähe erweist sie sich als eine riesige Spinne oder Zecke. Das Tier hat die Absicht, den Mann zu fressen. Dieser bietet dem Tier an, ihm längerfristig zu helfen, das könnte ihm nützlicher sein als ein einmaliges Mahl, auf das ja doch nur wieder Hunger folgen würde. Dem Tier leuchtet das ein, es verhält sich nun friedlich. Der Mann gibt ihm aus einer Feldflasche, die er am Gürtel befestigt hat – er hat jetzt offenbar wieder menschliche Gestalt, seine Kleidung ist nun aber archaischer, vielleicht jägerartige Kleidung aus Leder oder Fellen – zu trinken. Die Flasche enthält eine weiße, milchartige Flüssigkeit, die Spinne saugt daran wie ein Säugling aus einer Milchflasche, es tut ihr sichtlich wohl, ihr Körper saugt sich voll wie der einer Zecke, die Blut saugt. Der Mann überlegt dann, wie er der Spinne weiterhin helfen könnte. Was würde passieren, wenn sie wieder hungrig würde? Er hat keine klare Antwort, ahnt aber, dass in dem menschlichen Dorf eine Lösung zu finden sein könnte.
Plötzlich geht ein Rumoren durch den Baumstamm, und aus seiner Spitze tritt in einer großen Fontäne eine schwarze, dickflüssige, an Erdöl erinnernde Flüssigkeit aus, die die Umgegend mit einer todbringenden Schwärze bedeckt. Der Mann muss sofort an Amina denken, denn sie muss ja diese Schwärze sein, ist sie ja das Gegenstück zum Licht des Sonnenkönigs. Er umfasst mit seinen Armen den Baumstamm und ruft beschwichtigend: „Amina! Amina!“ Tatsächlich beruhigt sich nun der Baum und die schwarze Flüssigkeit versiegt wieder. Dabei spürt er wieder die alte Sehnsucht nach ihr, ihm ist, als würde er sie umarmen.
Er beschließt schließlich, mit der Spinne den Baum herunterzusteigen, um das Dorf aufzusuchen. Noch bevor er sich – etwas unlustig, da es ein weiter Weg sein würde – aufmacht, kommt von unten ein weiteres Tier heraufgeklettert. Es ist ein kleines, unruhiges Äffchen. Das Äffchen bleibt in der Nähe des Mannes und der Spinne / Zecke, wie sie beginnen, Ast für Ast den Baum herunterzusteigen. Bald erweist sich die Spinne als hilfreich: sie lässt sich mit einem Spinnfaden an einem Ast herunter, der Mann hält sich an ihr fest, das Äffchen sitzt ihm auf der Schulter. Auf diese Weise sind sie innerhalb kürzester Zeit unten am Boden angelangt. Aber immer noch ist der Weg ins Dorf weit. Seufzend macht sich der Mann mit seinen beiden Begleitern zu Fuß auf den Weg.
Es geht durch Wald, es zeigen sich noch keine Wege, bis sie zu einer Art Schneise kommen, deren Boden grasbewachsen ist. Schließlich gelangen sie an einen Fluss, an dessen Ufer ein kleines Boot auf sie zu warten scheint. Sie besteigen das Boot und fahren flussabwärts, der Fluss müsste nahe dem Dorf vorbeiführen. An der Stelle, die der Mann für die dem Dorf naheste hält, ist ein Landungssteg. Sie legen dort an, und ein mit quer angebrachten Rundhölzern ausgelegter Weg führt in Richtung des Dorfes. Bald kommen ihnen zwei, drei Männer entgegen, die ihnen offenbar entgegengeschickt wurden und die sie nun hinauf ins Dorf begleiten. Der Weg windet sich in Serpentinen den Hügel hinan und schon bald erreichen sie die ersten Häuser.
Vor einem der Häuser sitzt der Bürgermeister. Dem Mann fällt jetzt auf, dass der dunkle, gepflegte Anzug des Bürgermeisters (überhaupt sind die meisten Männer wie gepflegte, moderne Geschäftsmänner gekleidet und frisiert) in merkwürdigem Kontrast steht zu den eher verwahrlosten und kaum eingerichteten Häusern. Der Mann, zunächst unschlüssig, ob er es erzählen soll, teilt dem Bürgermeister schließlich mit, dass er die Lichtgestalt war, die ins Dorf gekommen ist, worauf der Bürgermeister ein trauriges Gesicht macht und ihn zum Haus, das man ihm gewiesen hatte und in dem er auch als Lichtgestalt war, führt. Der Mann blickt in dessen Inneres und sieht, wie die Blumen alle verwelkt sind und einen ungeheuren Gestank verbreiten. Denn als die Lichtgestalt das Haus verlassen hatte, konnten die Blumen ohne Licht nicht weiterleben. Die Spinne beginnt aber nun, die Blumen mit großem Eifer zu fressen, bis der Boden wieder ganz kahl ist. Dabei verwandelt sie sich in eine weiße Kugel, die auf der Seite, wo der Eingang ist, regungslos verharrt. Vom Eingang an steigt der Boden, der ja ein Teil des natürlichen Hangs ist, nach hinten hin steil an. Der Mann hat das Gefühl, irgendetwas tun zu sollen, und fragt den Bürgermeister, ob es eine Schaufel gebe. Der Bürgermeister geht aus dem Haus und kommt bald mit einer Schaufel zurück. Der Mann beginnt nun, mit der Schaufel einen ebenen Boden zu graben, die Erde schaufelt er durch den Eingang aus dem Haus. Er gräbt sich immer weiter zur hinteren Wand durch, als in der Erde plötzlich etwas wie ein Kanonenrohr erscheint, aus dem wieder schwarze Flüssigkeit, offenbar dieselbe wie vorher aus dem Baum, austritt, dazu auch schwarzer Rauch, sodass bald nichts mehr zu sehen ist. Sofort denkt der Mann wieder, dass Amina dahinterstecken muss, und er versucht sie anzusprechen. „Warum machst du das?“ – „Du sollst das nicht tun.“, sagt nun die Stimme Aminas. Der Mann macht aber weiter, und es zeigt sich, dass das Rohr zu einem alten Ofen gehört. Er richtet es, als der Ofen so ziemlich freigelegt ist, auf, und es erweist sich als eine Art Schornstein.
Links und rechts neben dem Ofen gräbt er weiter, als auf der linken Seite plötzlich ein Hohlraum zum Vorschein kommt, in dem sich eine Art altes Gespenst befindet, ganz grau, eine Mischung aus einer Fledermaus, einer Hexe und einer Eule. Dieses Wesen ruft nun sinnlose Silben in einer heiseren Stimme, springt im Raum umher und landet schließlich auf der weißen Kugel, wo sie sitzen bleibt. Während all dieser Arbeiten klettert das Äffchen rastlos in den weißen, alabasterartigen Wänden herum.
Der Raum ist nun fast vollständig freigelegt, aber der Mann ist immer noch nicht zufrieden. Da der Boden einfach aus Erde besteht, macht alles immer noch einen sehr schmutzigen Eindruck. Er versucht, mit einem Reisigbesen noch mehr Ordnung zu schaffen, kurz überlegt er auch, den Boden mit Teppichen auszulegen, was er wieder verwirft. Das Ergebnis bleibt jedenfalls unbefriedigend, der Raum macht einen schmutzigen Eindruck und verbreitet eine große Unruhe, die auf den Mann übergeht und ihn schließlich resignieren lässt.