Vom Kontrollverlust zur bewussten Balance
Vor etwa zwei Jahren spürte ich, dass ich in meiner Stabilitätsarbeit ein neues Level erreicht hatte. Etwas in mir öffnete sich erneut, um tiefere Bewusstseinszustände zu erforschen. Seitdem experimentiere ich wieder mit Techniken, die man Traumyoga nennen könnte – aber nicht in Form täglicher Übungen.
Ich habe gelernt, dass es keinen Sinn ergibt, wahllos an der Realität herumzuspielen. Die Realität, in der ich lebe, erfüllt eine Funktion. Ich experimentiere deshalb nur dort, wo ich mit dem Herzen etwas verändern möchte – dort, wo mein normales Handeln nicht ausreicht.
Ich habe aufgehört, meine Realität komplett „abzureißen“.
Stattdessen beschäftige ich mich intensiv mit der Frage, welchen Sinn und welche Lernfunktion meine jetzige Realität hat – und mit der Kunst der Annahme. Trotzdem erlaube ich mir, kleine Unzufriedenheiten auf magische, träumende Weise zu bewegen, solange meine Stabilität gewahrt bleibt.
Ich habe erkannt, dass man im Traum alles ändern kann, weil man dort kein festes Ego, kein Zuhause, keine Beziehungen hat.
Im Wachzustand aber hat jede Veränderung Konsequenzen. Wenn man dort unbedacht eingreift, kann man etwas verlieren –
sogar den Boden, auf dem man steht.
Darum muss man nicht nur wissen, was man verändern will, sondern auch was man bewahren möchte.
Dazu braucht es Versöhnung mit der Welt, in der man lebt. Nur wer seine Realität zumindest teilweise angenommen hat, kann entscheiden, welchen Teil er transformieren will, welchen Teil behalten.
Heute experimentiere ich also nur in den Bereichen, in denen ich mir wirklich eine Veränderung vorstellen kann – und nur dort, wo ich bisher keine andere Möglichkeit gefunden habe, Dinge zu bewegen.
Für mich steht Stabilität im Vordergrund. Das hängt sicher auch mit meiner Persönlichkeit zusammen, die viel Sicherheit braucht.
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Das Herz als Wegweiser
Das Buch von Namkhai Norbu hatte mich deshalb angesprochen, weil er den Weg über das Gefühl, die Intuition und das Herzchakra beschreibt.
Für mich hat sich herausgestellt, dass ich nur das verändern möchte,
was meinem Herzen wirklich wichtig ist.
Wenn man aus Liebe heraus etwas verändern will – sei es im Traum oder im Wachbewusstsein – ist das eine gute Grundlage. In der Phase meiner Initiation wollte ich vieles aus Euphorie und Neugierde bewegen. Diese Energie war stark nach oben gerichtet, wollte „weg“ und „woandershin“. Das führte zu Abstürzen.
Wenn ich dagegen aus einer Haltung von Liebe heraus handle,
fühlt sich das natürlich an – im Einklang mit mir und meinem Leben.
Liebe empfinde ich als eine sehr tragfähige Energie.
Deshalb mache ich heute keine ständigen Traumübungen mehr. Ich folge einfach der Liebe. Auch dann wenn die Liebe verrückte Sachen von mir will, die aus rein rationaler Sicht auch für mich seltsam sind.
Manchmal ist bewusstes Träumen eines von vielen Werkzeugen auf diesem Weg der Liebe, aber nicht das Ziel selbst. Ich lasse mich führen, und vieles entfaltet sich von selbst.
Ich habe trotzdem keine endgültigen Antworten. Vieles ist für mich noch neu und ungewöhnlich.
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Aktive Imagination – das Gleichgewicht zwischen Denken und Träumen
In letzter Zeit arbeite ich viel mit aktiver Imagination. Wenn ich eine Situation in der Wachrealität nicht durch physisches Handeln verändern kann, begegne ich ihr in der inneren Welt.
Ich stelle mir vor, wie sie sich wandelt – und gehe dabei nicht mehr davon aus, dass es „nur Phantasie“ ist. Die Übung ist für mich die Imagination genauso real werden zu lassen, wie die materielle Welt.
Ein imaginärer Baum ist ebenso wirklich wie der Baum vor meinem Haus.
Ich übe, die Trennung zwischen der äußeren und inneren Realität aufzugeben – das ist noch eine große Herausforderung. Meine rationale Prägung macht es schwer, das Traumbewusstsein wirklich gleichwertig zuzulassen.
Mein Denken will verstehen, kontrollieren und ordnen. Und doch weiß ich aus Erfahrung, dass diese Trennung gar nicht existiert. Sie ist ein kulturelles Erbe – eine Gewohnheit des Geistes.
In einer Welt, die vom aufgeklärten, rationalen Denken geprägt ist, bedeutet es, vieles loszulassen, um bewusst zu träumen. Fast alles, was man gelernt hat, steht einem dabei im Weg.
Es erfordert Mut, etwas zuzulassen, das in dieser Kultur als „verrückt“ gelten könnte – eine Wirklichkeit, in der das Innere ebenso wirklich ist wie das Äußere.
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Allein in der Welt stehen – mit einer ungewöhnlichen Sichtweise
Um so leben zu können, braucht man enorme Ich-Stabilität: die Fähigkeit, mit einer ungewöhnlichen, vielleicht sogar widersprüchlichen Sichtweise allein dazustehen.
Man muss über alle Glaubenssätze hinausgehen, die man je gelernt hat, und bereit sein, alles, was man weiß, innerlich leer zu machen. Leer – damit etwas anderes durchscheinen kann, etwas, das sich mit dem gelernten Denken kaum vereinbaren lässt.
Ich selbst stehe da immer noch am Anfang. Mein rationaler Hochmut will sich oft über das Traumbewusstsein erheben, obwohl ich tief in meinem Körper erfahren habe, dass beide nicht getrennt sind. Doch meine Sozialisation – 45 Jahre in einer aufgeklärten, materiellen Welt – prägt mich stark.
Um diese Trennung wirklich zu durchbrechen, muss man, ehrlich gesagt, sehr,
sehr verrückt sein.
Man muss bereit sein, mit einer Idee zu leben, die kaum jemand teilt – und sie trotzdem als wahr zu empfinden. Das heißt, bewusst zu träumen, als aufgeklärter Mensch, in einer Welt, in der so etwas kaum Platz hat. Es bedeutet, seine Erkenntnis rein subjektiv aus sich selbst zu beziehen und die automatische Bezogenheit auf die äußere Welt aufzugeben.
Das ist vielleicht der radikalste Schritt: zuzulassen, dass Wahrheit nicht mehr von außen bestätigt wird, sondern aus dem eigenen Inneren kommt. Und selbst wenn dieses Innere manchmal schweigt oder widersprüchlich wirkt, bleibt es die einzige verlässliche Quelle.
Man steht damit oft allein, doch gerade dieses Alleinsein formt die Tiefe. Es verlangt, sich auf die eigene Erkenntnis zu verlassen, statt auf das, was andere bestätigen.
Und obwohl ich mich noch als Anfänger betrachte, spüre ich: Je öfter man diese neuen – und zugleich uralten – Wege geht, desto vertrauter werden sie. Man arrangiert sich damit etwas verrückt zu sein. Aber ich mache das vorwiegend heimlich.
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Eins noch: So richtig motivieren kann ich mich nur über das Herzgefühl. Früher geschah das durch Leid – durch die Flucht vor dem Leid. Jetzt drängt mich von hinten immer weniger, zum Glück. Manchmal zieht mich etwas von vorne. Aber das kann ich nicht machen, nicht erzeugen, nicht aufgeben, nicht umlenken. Ich werde gezogen.
Dabei erlebe ich manchmal, wie ich immer mehr ins Traumbewusstsein gleite. Es ist fast so, als säße ich in einem Fahrzeug, das von selbst fährt, und ich schaue einfach zu, was passiert. Meist identifiziere ich mich noch stark mit dem Handelnden, weniger mit dem Beobachter während der Fahrt. Doch wenn ich prüfe, ob ich etwas verändern kann, merke ich später, dass es von selbst fährt.
Es ist die Paradoxie einer zunehmenden Traumkontrolle, die keine Kontrolle hat.