Ich hab mich einige Zeit genauer mit der Quellenlage der Bibel beschäftigt und finde insgesamt mittlerweile den Mythizismus, den Richard Carrier und David Fitzgerald z.B. vertreten, am plausibelsten:
Die Briefe von Paulus sind mit Abstand die frühesten christlichen Texte; alle vier Evangelien entstanden später, je nach Expert*in relativ viel später, d.h. das Johannesevangelium als Letztes bereits im zweiten Jahrhundert (um 120). Paulus schreibt, dass er persönlich Christus erlebt hat - und zwar in Visionen, nicht als Menschen. Weiters schreibt er, dass alles was eins wissen muss zum Glauben sich in den Schriften findet... vorsicht, gemeint ist nicht das neue Testament, denn das gab es zu diesem Zeitpunkt ja nicht!
Ergo: Das paulinische Urchristentum basiert auf den Visionen, die Paulus aufgrund seines Studiums der jüdischen Schrift hatte. Er schreibt selbst, dass er erst, nachdem er bereits ein Jahrzehnt lang diese Lehre verbreitet hatte, zum ersten Mal nach Jerusalem kam und sich mit dortigen Christen austauschte. D.h. falls es einen historischen Prediger namens Jesus gab, auf den die Bibel sich bezieht, so weiß Paulus von diesem eigentlich quasi nichts, er war jedenfalls nicht dessen Schüler, und bezieht seine Lehre aus Visionen.
Die mythizistische Theorie besagt nun, dass es eben überhaupt keinen historischen Jesus gab, sondern das Urchristentum sich gänzlich aus solchen Visionen entwickelte. Jesus in dieser Sekte war eine himmlische Gestalt, ein Hohepriester Gottes; sein Selbstopfer fand nicht auf der Erde statt, sondern in einer Himmelsdimension (das hab ich nicht mehr so genau im Kopf, aber das jüdische Konzept dieser Himmelsdimensionen ist ziemlich komplex, siehe auch der sprichwörtliche "siebte Himmel"), und erfahren haben die Menschen eben - durch Visionen.
Zu beachten ist dabei, dass diese Visionen nicht einfach so aus dem Nichts kommen, sondern dass es zu dieser Zeit viele jüdische Sekten gab, die intensiv die Schrift durchsuchten und sich einen Reim auf die Prophezeihungen machen wollten. D.h. es gab gewisse etablierte Vorstellungen darüber, wie der Messias "funktionieren" sollte. Das Judentum war ziemlich zerspalten in den Meinungen, also die Idee, dass es da
die Juden gab und
die Christen ist sehr irreführend. Vermutlich gab es auch mehrere ähnliche Sekten, da ja z.B. Leute wie Paulus einfach mal im Alleingang ihre Lehre verbreitet haben, und andere Visionäre die ihre. Das zusammenzupuzzlen dürfte interessant gewesen sein.^^
Okay, und was ist mit den Evangelien? Wie gesagt, die kamen alle nach Paulus. Carriers Hypothese ist, dass es sich dabei um fiktionale Biographien handelt, die geschrieben wurden, um jeweils eine bestimmte Theologie durchzusetzen. Das klingt für uns erst einmal abwegig, dazu muss eins aber wissen, dass es in der Antike eine Vielzahl solcher fiktionalen Biographien gab, beispielsweise zu Herkules, Romulus, Dyonisos, ... die alle als Götter/Halbgötter etabliert waren, und dann nachträglich eine Lebensgeschichte und eine Epoche zugewiesen bekamen.
Von "unserem" Jesus gibt's auch noch ein paar mehr. Ich meine mich zu erinnern, dass es sogar einen Text aus einer anderen Überlieferungstradition (irgendwo im Südosten, Persien?) gab, die die Geburt Jesu hundert Jahre früher angesetzt hat als in unserer Zeitrechnung.
Das erste Evangelium ist das Markusevangelium; die Autoren von Lukas und Matthäus haben auf diesem aufbauend dann ihre Evangelien geschrieben. Über die Autoren der Evangelien ist uns fast nichts bekannt, die Namen wurden den Evangelien in der Kirchentradition gegeben. Interessant ist, dass sich die Evangelien vieler bekannter Muster von antiken Erzählungen bedienen, die eins z.B. auch in den fiktiven Biographien von Romulus und anderen finden kann. Dass Herodes die Tötung aller Neugeborenen anordnet, um damit auch den Messias zu töten, bevor er ihm gefährlich werden kann, ist ein extrem häufiges Motiv, das in vielen Mythen der ganzen Region vorkommt, und sogar in der Tora bereits, in der Geschichte von Moses. Richard Carrier listet da dutzende Parallelen auf, die ich natürlich nicht mehr im Kopf hab.
Es kann also durchaus sein, dass den Eingeweihten durchaus klar war, dass es sich um Fiktion handelt, mit denen halt eine bestimmte Lehrmeinung von einer wahren, in einer himmlischen Dimension angesiedelten Glaubenslehre vereinfacht erklärt werden konnten. In antiken Mysterienkulten ist das anscheinend oft so, dass es eine Lehre für die Eingeweihten und eine andere Lehre für die Novizen gibt.
Auf jeden Fall gibt es in den Evangelien eine Menge offensichtliche Erfindungen - bestes Beispiel die Volkszählung, aufgrund derer Josef und Maria nach Betlehem reisen sollten - erstens gab es in der Zeit keine, zweitens haben die Römer
null Interesse daran, aus welchen Orten die Familien irgendwelcher Juden stammen. Das ist also ein Plotpoint, der dazu dient, die Geburt in Betlehem stattfinden zu lassen, einem aus der Schrift eben wieder symbolisch aufgeladenem Ort.
In vielen Köpfen hält sich die Vorstellung, dass sich das Christentum nach seiner Entstehung im römischen Reich wie ein Lauffeuer verbreitet hat - das stimmt so auch nicht; die Christen waren so unbekannt, dass römische Autoren auch noch zwei Jahrhunderte später erst einmal erklären mussten "ich hatte da mit Christen zu tun - wem, wirst du fragen? - naja, das ist so eine kleine jüdische Sekte..."
Dass sich ausgerechnet das Christentum - ein winziger antiker Mysterienkult auf Basis der jüdischen Schriften - zur Weltreligion entwickeln konnte, ist natürlich eine krasse Sache. Da waren offenbar die richtigen Leute zur richtigen Zeit an den richtigen Orten. Vermutlich hätte es auch im Prinzip jede andere Sekte dieser Zeit schaffen können, und wäre das passiert, würden wir uns genauso die Frage stellen "wie zur Hölle, warum genau die?"
Interessant finde ich, dass das römische Reich erst christlich wurde, als es damit schon eine Zeit lang bergab ging. Die Christianisierung führte dann auch zum Ende der Religionsfreiheit, die im römischen Reich zunächst ja noch gegeben war (solange alle den Kaiser als göttlich anerkannten, versteht sich^^). Was ich den frühmittelalterlichen Christen richtig übel nehme, ist, dass sie teilweise wissenschaftliche Texte der Antike einfach mit ihren Evangelien überschrieben haben (um Papier zu sparen, da kostbar), und damit effektiv eine Menge an antikem Wissen zerstört haben.
Achtung - soweit hab ich das alles aus dem Kopf wiedergegeben - da ich jetzt nicht nachschaue, wird so einiges davon im Detail nicht stimmen.
Wer
richtig richtig viel Zeit hat, dem empfehle ich Richard Carriers
On the Historicity of Jesus Christ, ein dicker Wälzer, der gründlich im Prinzip durch alle vorhandenen Quellen durchgeht, teils erklärt, warum sie spätere Fälschungen sind (und die Belege dafür aufzählt), teils erklärt, welchen Mythen sie sich bedient haben, teils erklärt, wie der Kontext im römischen Reich damals war (was war denn eigentlich der Job des Pilatus?) usw. usf. - Ist auch sehr interessant, wenn eins einfach nur etwas lernen will über wie über Geschichte geforscht wird, oder über die Zeit halt. Aber wie gesagt, dicker Wälzer, da braucht eins durchaus eine Weile, um da durchzukommen. Und bei mir ist das schon wieder ein paar Jahre her.^^
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Was die christliche Heilslehre angeht, denke ich, dass sie durch und durch verkorkst ist: Alles basiert im Prinzip darauf, dass es vererbbare Schuld gibt. Im alten Testament können wir ja öfter so etwas lesen wie "du bist verflucht bis in die dritte Generation" oder sowas. D.h. es gilt als vollkommen normal, dass Kinder für etwas büßen, was die Urgroßeltern getan haben.
Gäbe es den Gott der Bibel, würde ich wahrscheinlich sofort zu Satan überlaufen, da dieser in der Bibel selbst deutlich humanistischer rüberkommt. (Gott
tötet massig unschuldige Babies der Ägypter - ich meine, das ist einfach nur ein Monster, wenn diese Geschichte ernst genommen wird. Da kann ich gleich Cthulhu anbeten.)
Was die Bibel als kulturelles Erbe der europäischen Kultur angeht, dass eins kennen muss - ja, ist wohl so. Wenn es in meinen obigen Aussagen so klingt, als würde ich die christliche Heilslehre nicht verstehen (vermutlich würde mir das sofort vorgeworfen) so kann ich nur sagen, dass ich vermutlich mehr Ahnung davon habe als die meisten Christen, allerdings bewusst die Probleme in den Fokus stelle, da ich dieser Lehre keinen Fußbreit Boden gönne. Ich hoffe, dass die Bibel in der Zukunft mal den selben Stellenwert hat wie die griechische, römische oder germanische Mythologie: Stoff für Superheldenfilme, aber (fast) niemand glaubt ernsthaft daran.
Und noch ein Disclaimer: Natürlich haben Theologie und Philosophie im Laufe der Geschichte eine Menge interessanter Gedanken hervorgebracht, und Mystizismus, and whatnot. Aber das hätte die Theologie einer anderen Sekte auch. Können wir im Nachhinein nicht wirklich sagen, ob das besonders verschieden wäre davon. Das Christentum speist sich ja wie gesagt aus den antiken Mysterienkulten, einem Schuß Zoroastrismus, und alles wird dann halt an die jüdische Tora angepasst, die es heute noch mitschleppt, und die ihr vielleicht allmählich zum Verhängnis wird, weil die dortige Moral die meisten Menschen unserer Zeit nur noch abstößt.