RE: Was ist deutsche Kultur?
18.04.2018, 15:26
Zitat:dass auch die konsequente Vermeidung jeglicher nationaler Begrifflichkeit, sosehr ich so eine Haltung jetzt nachvollziehen kann, nicht unproblematisch ist.
Ja - aber aus einem anderen Grund als dem genannten, würde ich meinen.
Es ist Nationalität nichts, auf das stolz zu sein, Sinn macht. Aber wo ich geboren bin und mit welcher Muttersprache, hat durchaus Auwirkungen - nämlich bildet es die Basis für Privilegien. Dass Nationen obsolet sein sollten, heißt ja nicht, dass sie es in der Praxis sind. Würde ich nach UK ziehen, und sagen wir mal die britische Staatsbürgerschaft erlangen, und sonst keine mehr - so würde ich dennoch mein Lebtag dort markiert sein, d.h. aus der Masse der Brit*innen herausstechen dadurch, dass ich einen deutschen bzw. österreichischen Akzent habe.
Nichtsdestotrotz wäre ich in diesem Fall Brit*in. Und es wäre wahrscheinlich nach einer Weile auch der Fall, dass ich auch in meiner Geburtsregion markiert wäre dadurch, dass meine Sprache abweicht. (Das ist jetzt schon der Fall, ich spreche teilweise mit (bundes-)deutschem Akzent, verwende Wörter wie "ne" und andere grammatische Konstrukte, Anglizismen, usw.)
Markiert sein heißt: Stereotype bleiben eher an mir haften. Egal was ich tue, es wird immer Leute geben, die mein Verhalten darauf zurückführen, dieser markierten Klasse anzugehören, also "das tust du nur, weil du aus Österreich bist" oder "so wie du dich bewegst, das ist typisch österreichisch" - sind alberne Beispiele, die nur das Prinzip veranschaulichen sollen.
Markiert als "österreichisch" bin ich, solange ich mich in einer Umgebung befinde, in der die Mehrheit oder die angenommene Mehrheit diese Eigenschaft nicht teilt.
Diese Analyse bzgl. markiert/unmarkiert und wie sich daran Stereotype haften lese ich gerade in einem exzellenten Buch von J. Serano - darauf gehe ich bestimmt woanders mal ausführlicher ein.
So, ich bin bissl abgeschweift. Worums mir ging ist glaub ich eher, dass das Konstrukt "Nation" abzulehnen nicht bedeutet, nicht wahrzunehmen, dass es in den Köpfen anderer Menschen weiter existiert, oder sogar ähnliche Konstrukte unbewusst erzeugt werden. (z.B. Dialektregionen - in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, wird ein anderer Dialekt gesprochen, als in der Stadt, in der ich geboren bin, und nochmal ein komplett anderer in der Stadt, in der ich heute wohne. Und das ist alles im Prinzip innerhalb von 100 km...)
Menschen nehmen unterbewusst feine Unterschiede z.B. in der Sprache wahr, und in einer Versammlung in der einige Personen anders sind als der Rest, werden die "Abweichler*innen" markiert... damit das aber auf einem "nationalstaatlichen" Level passieren kann, müssen diese feinen Unterschiede bereits zerstört werden zum Zweck einer Generalisierung. In gewissem Sinne könnte man so manche rechte nationalistische Denke sogar als heimatfeindlich sehen.
Tatsächlich gibt es heute rechte Bewegungen, die sich überstaatlich verstehen, und sich auf eine weiße oder europäische Identität berufen.
Je größer aber der Rahmen gefasst wird, desto mehr Unterschiede werden bewusst eliminiert. Vom Prinzip her ist eine europäische Identität aber auch nicht viel absurder als schon eine deutsche Identität. Selbst auf dem lokalsten Level unterscheiden sich die Menschen ja sehr stark - Gemeinsamkeiten sind halt nicht homogen. Klar habe ich eine gemeinsame Welterfahrung mit den Menschen, die im selben Ort aufgewachsen sind und vllt die selben Lehrer*innen hatten, usw. Und wenn ich mit diesen Menschen zusammentreffe, dann wird vermutlich sogar eher über diese Gemeinsamkeiten geredet... das erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl. Aber dieses Gemeinschaftsgefühl ist immer ein bewusstes Wegschauen von den Unterschieden. Tatsächlich habe ich mit einzelnen Menschen, die 1000 km entfernt aufgewachsen sind, ja viel mehr gemeinsam, als mit den Leuten in meinem Volkschulort.
Die Frage ist also: Wer erzeugt ein bestimmtes Gemeinschaftsgefühl, und zu welchem Zweck?
(Ich finde Gemeinschaftsgefühle ja sogar etwas gutes, aber nur, wenn
das, was verbindet, selbst eine gute Sache ist. Ich glaube, da gibt's in unserer Welt genügend Auswahl an guten Sachen - je spezifischer außerdem, desto besser die Gemeinschaft. Auf nationaler Ebene ist da echt nix zu holen, es sei denn, es werden künstlich noch andere Ähnlichkeiten erzeugt...)